Mein geehrtester Freund!

Verzeihen Sie, dass ich erst so spät Ihnen meinen wärmsten Dank sage für das schöne Buch über die Insektenfressenden Pflanzen, welches Sie mir zu übersenden die Güte hatten.² Ich war bei seiner Ankunft sehr beschäftigt u. hatte das Lesen desselben auf die Ferien versparrt, welche ich auf dem Lande zubringen wollte. Die von Ihnen gewonnenen Resultate haben mich aufs lebhafteste interessiert u. die mit bewundernswerther Umsicht u. Ausdauer durchgeführten Beobachtungen machen einen überwältigenden Eindruck. So auffallend es ist, dass dieselben Zellen zersetzende Stoffe ausscheiden u. andere Stickstoffhaltende aufsaugen u. als Nahrung verwenden, dass ohne Nervensubstanz so complicirte Bewegungen ausgeführt werden, so wunderbar, dass ein Minimum von gewissen Stoffen schon solche Bewegungen u. Umbildungen in den Zellen veranlassen kann,—ist diess u. so vieles andere durch Ihre Untersuchungen nachgewiesen. Sie werden aber auch vielen neuen Untersuchungen rufen; die vielen mit klebrigen Drüsenhaaren besetzten Pflanzen müssen auf ihr Verhalten zur Insectenwelt geprüft werden u. auch die Aufsaugung der Nahrung durch die Wurzelfasern wird einer neuen Prüfung unterzogen werden müssen, indem der Ausscheidung der Wurzelzellen wahrscheinlich eine grössere Bedeutung zukommt, als man bis jetzt annimmt. Auch dieses Ihr Werk wird daher wieder nach den verschiedensten Richtungen hin Licht u. Leben bringen!

Ich war in den letzten Monaten mit der Untersuchung der Jura=Flora Ostsibiriens u. des Amurlandes beschäftigt, zu welcher mir die Petersburger Akademie die Materialien geliefert hat.³ Es besteht die Flora aus zahlreichen Farn, aus Cycadeen u. Coniferen, unter letztern zeichnen sich die Taxineen durch Ihr zahlreiches Auftreten aus.⁴ Die Gattung Ginkgo (Salisburia) erscheint in 6 Species, welche nicht nur in vielen, vortrefflich erhaltenen Blättern, sondern z. Th. auch in den männlichen amentis u. Früchten dargestellt werden konnten, dazu kommt eine nahe verwandte, ausgestorbene Gattung, die auch in Blättern, Blüthen u. Früchten erhalten ist.⁵ Es scheint Ginkgo zur Jurazeit das Maximum der Entwicklung erreicht zu haben u. lässt sich von da durch den Wealden, das Urgon, Cenoman u. Miocen bis zur Jetztwelt verfolgen. Ginkgo adiantoides, der im Miocen von Grönland u. Mittel Italien auftritt u. mir neuerdings auch von der Insel Sachalin zugekommen ist, ist kaum mehr von G. biloba L. zu unterscheiden.⁶ Anderseits enthält die raetische Formation mehrere Pflanzenformen, die als Jeanpaulia u. Baiera beschrieben wurden, welche nahe an Ginkgo sich anschliessen u. von den Carbon=Pflanzen stehen offenbar Noeggerathia u. Cordaites mit dieser Gattung naher Beziehung.⁷

Sie aufs freundlichste begrüssend | Ihr hochachtungsvollst ergeben | Oswald Heer

Zürich 28 Septemb. 1875.