Hochverehrter Freund!

Noch niemals habe ich Ihnen mit solcher Furcht und Zaghaftigkeit geschrieben, wie heute. Denn ich trete durch die beifolgende Schrift über “die Perigenesis der Plastidule” zum ersten Male (und hoffentlich auch letzten Male!) einer Ihrer Ansichten entgegen.² Freilich handelt es sich ausschliesslich um die “provisorische Hypothese der Pangenesis”, von welcher die Descendenz-Theorie und Ihre eigene Selections-Theorie ganz unabhängig ist.³ Aber trotzdem ist es mir sehr schwer geworden, auch nur in einem einzigen untergeordneten Punkte Ihren geistreichen Ansichten irgendwie zu opponiren.

Sie werden wohl bemerkt haben, dass ich in meinen bisherigen Schriften—namentlich auch in der “Anthropogenie” und “Natürlichen Schöpfungsgeschichte”⁴ Ihre Pangenesis ganz mit Stillschweigen übergangen habe, und zwar bloss desshalb, weil ich von Anfang an mich nicht damit befreunden konnte.

Als Sie nun kürzlich die Güte hatten, mir die II. Edit. Ihres ausgezeichneten Werkes über “Variation under Domestication” zu überschicken, und mich besonders auf die verbesserte Darstellung der “Pangenesis” aufmerksam zu machen, fühlte ich mich verpflichtet, meine Gründe dagegen aus einander zu legen und mein bisheriges Stillschweigen darüber zu erklären.⁵

Wenn Sie die Güte haben wollten, gelegentlich in einer Musse-Stunde sich den Versuch über die provisorische Hypothese der Perigenesis anzusehen, so würde ich Sie bitten, zunächst die blau angestrichenen Stellen zu beachten.⁶ Auf pag. 70 habe ich den Unterschied und Gegensatz zwischen Ihrer Pangenesis und meiner Perigenesis möglichst scharf formulirt. Im Vordergrunde meiner Hypothese stehen folgende Elemente derselben: 1, Das mechanische Princip der übertragenen Molecular-Bewegung, 2, Die active Thätigkeit des Plasson (in den Zellen Protoplasma + plus Nucleus), 3, Das Gedächtniss oder die Reproductionskraft der Plastidule (der Plasson-Moleküle, als einziger activer, lebendiger Gewebs–Elemente).⁷

Ich bekenne Ihnen offen, dass ich nicht im Stande bin, die Pangenesis mit den Thatsachen der Histologie— oder richtiger gesagt, mit meiner Auffassung der Zellen-Theorie und mit der Plastiden-Theorie zu vereinbaren. Über letztere habe ich in meinen biologischen Studien über Moneren und andere Protisten mich ausführlich ausgesprochen.⁸ Wie bei der Pangenesis die Gemmulae der ganzen Ahnen-Reihe im Sperma und im Ei sich ordnen und wieder zur organisirten Form-Bildung in den Descendenten kommen sollen, vermag ich nicht zu begreifen; mir scheint daraus nothwendig eine Einschachtelung der Keime und theilweise Praeformation zu folgen. Verzeihen Sie mir diese offenen und aufrichtigen Einwürfe!

Neben der herzlichen Bitte um nachsichtige Aufnahme der “Perigenesis” trage ich Ihnen heute gleich noch ein zweites Gesuch vor, die Bitte um Verzeihung dafür, dass ich Ihnen die beifolgende “Geographie botanique” aus der “Histoire naturelle des Iles Canaries” von Webb und Berthelot erst heute zurücksende.⁹ Sie hatten die Güte gehabt, mir dieses Werk im October 1866, als ich das Glück hatte, Sie in Down besuchen zu dürfen, mit auf die Reise nach den Canarischen Inseln zu geben und es hat mir auf Teneriffa und Lanzarote sehr gute Dienste geleistet.¹⁰ Nach der Rückkehr hatte ich es zufällig verlegt und fand es erst kürzlich zwischen einen Haufen von Bildern und Blättern in einer bei Seite gelegten Mappe wieder. Verzeihung bitte ich für diese Unordnung, und herzlichen Dank sage ich für das geliehene Werk. Ebenso den freundlichsten Dank für die II Aufl. der “Variation”— Ich bin gegenwärtig mit der Umarbeitung der III. Aufl. der “Anthropogenie” beschäftigt, welche wesentlich zu verbessern ist. Ich hoffe, sie Ihnen noch im Laufe dieses Jahres senden zu können.¹¹ Ausserdem kann ich fast Nichts arbeiten, da ich zu Ostern das Prorectorat der Universität Jena übernommen habe und fast den ganzen Tag durch Amts-Geschäfte Schreiberei und Vorlesungen absorbirt bin.¹²

Hoffentlich geht es Ihnen gut, hochverehrter Freund. Ich empfinde stets mit grösster Freude mit Ihnen die glänzende Genugthuung, dass die grossartige, von Ihnen hervorgerufene naturphilophische Bewegung immer weitere Kreise der Wissenschaft ergreift und immer glänzendere Früchte trägt.

Indem ich Sie freundlichst bitte, meine Perigenesis nachsichtig zu beurtheilen und die Opposition gegen die Pangenesis nur als aufrichtige Frucht des Strebens nach Wahrheit aufzufassen, bleibe ich mit den freundlichsten Grüssen | Ihr treu ergebener | Ernst Haeckel