Mein theurer hochverehrter Freund!

Verzeihen Sie, dass ich Ihnen erst heute für das gütigst übersandte Explr. Ihres sehr interessanten Werkes über “Expression of the emotions etc” meinen freundlichsten Dank sage.² Ich war aber in den letzten Monaten völlig absorbirt von der Vollendung meiner “Monographie der Kalkschwämme” (Calcispongien oder Grantien).³ Um das Werk fertig zu machen noch in diesem Jahr, musste ich Tag und Nacht schreiben, und in den letzten Wochen täglich einen ganzen Druckbogen corrigiren. Eine schreckliche Arbeit, welche mich zu keiner Lectüre kommen liess. Ich habe daher Ihr Buch on “Expression” etc. nur erst flüchtig durchlesen können und hoffe jetzt, nach meiner Befreiung von den Spongien, es in ganzer Musse lesen zu können.

Meine Monographie der Kalk-Spongien (2 Bände Text und 1 Atlas mit 60 Tafeln) werden Sie in den nächsten Wochen direct von meinem Verleger erhalten, welchen ich beauftragt habe, Ihnen ein Exemplar zu schicken.⁴ Vorläufig sende ich Ihnen beifolgend die beiden letzten Bogen des ersten Bandes und das Titel-Blatt mit Vorrede.⁵ Ich hoffe, dass die generellen Resultate im 7 und 8 Capitel Sie interessiren werden, besonders das “biogenetische Grundgesetz, die generischen und spezifischen, connexiven und transitorischen Varietäten, und die “Ursachen der Formbildung” (p. 479, 481).⁶ In dem III Capitel (Morphologie) wird das Intercanal-System für Sie von Interesse sein (p. 275–290), im IV. Capitel die Parallele zwischen Ontogenie und Phylogenie des Olynthus (p. 347), im V. Capitel die Anpassung (p. 381–391), die sich hier ausgezeichnet verfolgen lässt, und die Vererbung (p. 399).⁷ Das Resultat für die generelle Zoologie ist insofern wichtig, als der Species-Begriff in gewöhnlichem Sinne bei den Spongien gar nicht zu fassen ist; die Variabilität übersteigt alle Grenzen. Ich musste daher im speciellen Theile (im II. Bande) 2 Systeme machen, ein natürliches und ein künstliches.⁸ Zur Vergleichung beider bitte ich Sie, die Formen von Ascetta primordialis auf Taf. 2 anzusehen, ferner Ascaltis Darwinii (Taf. 10, Fig. 3) mit ihren generischen und specifischen Varietäten (A. Erasmi und A. Caroli), ferner Leucetta primiginenia (Taf. 21) und Sycandra compressa (Taf. 57).⁹ Die Polymorphose dieser und anderer Arten ist für die Descendenz-Theorie höchst lehrreich

Von besonderer Wichtigkeit scheint mir der Olynthus zu sein, die einfachste Form der Kalkschwämme, weil dieser sich unmittelbar aus der Gastrula ableiten lässt, die als Larve oder Embryonal-Form auch bei den höheren Thierstämmen vorkommt. (p. 466, 467). Ich glaube, dass dadurch der Stammbaum des Thierreichs auf S. 465, und besonders die Descendenz aller Thiere (exclus. Protozoen) von der Gastraea an Sicherheit ausserordentlich gewinnt. Die beiden Lamellen, aus denen die Magenwand des Olynthus besteht, sind identisch mit den beiden Keimblättern der höheren Thiere. Die primordiale Phylogenie der höheren Thiere wird da⁠⟨⁠d⁠⟩⁠ur⁠⟨⁠ch⁠⟩⁠ ausserordentlich klar; zumal dieselbe Gastrula auch bei Amphioxus und den Ascidien sich findet.¹⁰

Die Bedeutung der Calcispongien scheint mir vorzüglich darin zu gipfeln, dass sie einerseit eng an die Polypen (Hydra, Cordylophora) sich anschliessen, anderseits viel einfacher als die übrigen Spongien in dem Ascon-Typus sich offenbaren. Die Homologie des Olynthus und der Hydra erscheint mir unzweifelhaft, und somit auch der morphologische Werth ihrer inneren Höhle als Darmhöhle¹¹   Durch die Gastrula entfernen sie sich zugleich weit von den Protozoen.¹² Wenn Sie die Gastrula der Calcispongien (Atlas Taf. 13, Taf. 30, Taf. 44) vergleichen mit der entsprechenden Larvenform der Würmer und Echinodermen, der Ascidien und des Amphioxus (wie ich sie z. B. auf Taf. X, Fig. A4, B4 in meiner “natürlichen Schöpfungsgeschichte¹³ abgebildet habe) so werden Sie die morphologische Identität zugestehen müssen.

Ich sende Ihnen noch ein zweites Exemplar der beiden letzten Capitel, mit der Bitte, es an Sir John Lubbock gelangen zu lassen, dessen Adresse ich nicht kenne. Wenn Sie Sir Lubbock sprechen sollten, bitte ich ihm zu sagen, dass seine “Prehistoric Times jetzt in das Deutsche übersetzt werden. Ich habe Virchow gebeten, eine Vorrede dazu zu schreiben.¹⁴

Haben Sie die englische Übersetzung meiner Schöpfungsgeschichte schon erhalten? Oder ist sie noch nicht fertig?¹⁵

Ich hoffe, mein theurer Freund, dass Sie mit Ihrer Gesundheit zufrieden sind!

Indem ich meinen Dank für Übersendung Ihres Buchs wiederhole, bleibe ich mit der bekannten Verehrung Ihr von ganzem Herzen | ergebener | Ernst Haeckel

Grosses Aufsehen in Germany erregt jetzt ein Buch unseres geistvollen Theologen David Strauss: “Alter und neuer Glaube”. Der Verfasser des “Lebens Jesu” zeigt sich hier als überzeugter Darwinist, und entwickelt eine philosophische Religion auf dem Boden des Darwinismus!!¹⁶

Es geht vorwärts!!